Eine Erinnerung an Silvester 1954 - Von Rainer Kutscher
Lerbach (ku). In den Lerbacher Heimatblättern Heft 10 haben einige Autoren über Lausbubengeschichten und Jugenderinnerungen geschrieben (der HK berichtete). Werner Wiegand erinnert sich an eine Begebenheit vor 44 Jahren, über die viele Leser schmunzeln mußten. Was ist damals passiert?
Am Silvesterabend 1954 sollte es in der großen Familie Wiegand in Lerbach mit 14 Kindern zum Abendessen die beliebten gebratenen Pferdewürstchen geben. Doch diese schwammen im Lerbach in der Ortschaft Freiheit beim Eichental davon und sind vielleicht über die Söse, Leine und Weser in die Nordsee gelandet.
Werner Wiegand (genannt Hussa) berichtet warum:
Im Jahre 1954 war ich gerade 15 Jahre alt und fuhr zu Silvester zu meinen Großeltern nach Osterode. Ich solle Pferdewürstchen aus der Roßschlächterei Borchers mitbringen. Wir wollten am Abend mit allen 14 Geschwistern Silvester feiern.
Bei meinen Großeltern war ich gerne. Mit dem Fahrrad, das meinen Brüdern Fritz und Alfred gehörte, fuhr ich mit der Aktentasche auf dem Gepäckträger los.
In Osterode angekommen, gab es erst einmal zu essen und zu trinken. Dann ging ich mit Opa in den Pferdestall und half ihm beim Häckseln. Auch die Eier, die die Hühner versteckt hatten, suchte ich zusammen. So ging der Tag schnell vorüber und ich machte mich, nachdem ich die Würstchen gekauft hatte, auf den Weg nach Hause. Oma sagte noch, als ich losradelte: „Junge, paß auf, daß nicht im alten Jahr noch etwas passiert!"
Mein Weg führte über den Judenfriedhof, zum Südbahnhof - Landkreis - Bleichestelle bis Ortsausgang Freiheit. Dort fuhr ich links über die Straße auf einen Gehweg, der etwa ein Meter breit war. Kaum war ich drauf, rutschte ich mit dem Fahrradweg. Es hatte gefroren. Außerdem waren tiefe Eindrücke von Pferdefuhrwerken in dem Weg. Ich rutschte also weg und fiel in einen Kolk, in den daneben fließenden Lerbach. Da lag ich nun mit de Fahrrad und den Pferdewürstchen im kalten Wasser. Als der erste Schreck überwunden war, merkte ich, daß die Tasche mit dem Würstchen weg war und die schönen Zwiebeln von der Oma. Auch die Kartengrüße für meine verheirateten Geschwister fehlten.
Zum Glück kam ein Ehepaar des Weges, das mich in der Flut herumlaufen sah. Sie zogen erst das Fahrrad mit einem Spazierstock hoch und dann mich. Aber kaum war ich oben, da sprang ich wieder in den Kolk, um die Aktentasche zu suchen. Ich stakte durch die Flut unter dem Gewölbe durch, bis zum Wehr vor der alten Hermacht (Fabrik) und zurück. Aber die Aktentasche war wohl abgetrieben. Wieder zog mich das Ehepaar aus der Flut. Ich bedankte mich und fuhr in Richtung Lerbach. Beim Karlsteich sprang mir die Kette ab. Nun geriet ich in Panik. Wenn ich ohne Würstchen nach Hause kam, was werden Vater, Mutter und die Geschwister wohl sagen?
Prompt machte ich kehrt und fuhr wieder nach Osterode zum Krummen Bruch. In der Pferdeschlachterei Borchers wurde gerade der Laden gereinigt, es war nun schon 18 Uhr geworden. Mit leiser Stimme fragte ich an, ob ich noch einmal Pferdewürstchen bekommen könnte. Geld hatte ich ja noch von Oma. Also kaufte ich die Würstchen, packte sie unter den Arm und radelte in Richtung Lerbach. Ich fuhr so schnell ich konnte, weil ich ja pünktlich zum Abendessen zu Hause sein mußte. Je näher ich dem Elternhaus (Hexenzipfel Nr. 5) kam, desto langsamer wurde ich. Mit Angst im Nacken und weinend betrat ich die Küche.
Vater wurde wütend, aber zum Glück war Frau Lütje (Frau und Herr Lütje fuhren damals herum und verkauften Textilien) da und rechnete mit Mutter ab. Das war mein Glück, sonst hätte ich wohl eine Abreibung bekommen. Alle Würstchen wurden gebraten und schmeckten sehr gut.
Um 24 Uhr sollte ich dann mit Fritz Schönfelder (Schlüß) das neue Jahr im Glockenturm einläuten. Vater mußte an dem Abend im Hotel „Glück Auf kellnerieren. Um 22 Uhr sollte ich dort sein. Ich badete mich vorher in der Zinkwanne und machte mich, als es Zeit war, auf den Weg. Im „Glück Auf angekommen, hörte ich, wie die Gäste lachten. Ich wußte auch gleich warum. Über mich. Denn Vater hatte schon erzählt, was mir passiert war.
Punkt 24 Uhr läutete Fritz mit der großen und ich mit der kleinen Glocke das neue Jahr ein. Am Neujahrs nachmittag war dann alles wieder im Lot. Gelacht haben wir noch oft über die Geschichte.